Die Eisbärin mit ihren beiden Jungen schwimmt direkt vor unserem Boot. Sie sind viel zu nah für das Teleobjektiv meiner Kamera. Mein Herz schlägt bis zum Hals als ich realisiere, dass mich keine zwei Meter vom gefährlichsten Landraubtier dieser Erde trennen.
In Repulse Bay Nunavut, Kanada, existiert Tourismus nur am Rande. Das macht unsere Reise einerseits zu einem echten Abenteuer, doch es braucht andererseits eine gehörige Portion Geduld. Und die wird heute auf eine echte Probe gestellt. Denn heute steht das Highlight unserer Reise an: Eine Bootstour zu den Ship Harbour Inseln.
Punkt 11 ist Abfahrt. Doch in Nunavut tickt die Uhr langsamer.
Wir stehen abrufbereit im Hotel als uns unsere Reiseleiterin Coral von Great Canadian Travel Company signalisiert, dass unser Ausflug erst gegen 11 Uhr stattfinden kann. Doch der Termin um 11 Uhr verstreicht, ohne dass unser Guide zu sehen ist. Schließlich ist es früher Nachmittag, als wir Johnny, unseren Inuit-Guide treffen, der uns zu den Booten bringt. Für unseren Ausflug stehen zwei Boote bereit. Eines wird von Johnnys älterem Bruder David gesteuert.
Die Temperaturen liegen über Null Grad, trotzdem ist es auf dem Wasser ganz schön kalt. Vorsorglich habe ich lange Merinowollunterwäsche angezogen, darüber trage ich mehrere Schichten mit Merinowolle und Fleece, als äußerste Schicht meine Gore-Tex Regenkleidung. Außerdem Handschuhe, Mütze und Buff-Schaal.
Wir fahren an den Ship Harbour Inseln vorbei und ich sehe erste Eisberge im Wasser treiben. Es sind keine Giganten doch sie geben mir einen ersten Eindruck von der Einöde, in der ich mich befinde. Der Himmel, das Wasser, die Inseln, die nur aus blankem Felsen bestehen, die arktische Luft, frisch und unverbraucht, die meine Sinne mit jedem Atemzug beleben. Ich fühle mich sonderbare Weise befreit. Auf einmal wird mir bewusst, in was für einer reizüberfluteten Welt ich lebe.
In der Arktis reduziert sich alles auf das Wesentliche. Die Farben sind monochrom. Wasser und Wolken sind Blaugrau. Dazwischen heben sich die Inseln mit rostbraunen Tönen ab. Es sind keine lauten, schrillen Farben die nach Aufmerksamkeit schreien. Ich bin tief ergriffen von der meditativen Atmosphäre dieser kargen Landschaft. In mir breitet sich eine wohltuende Stille aus und ich spüre, wie sich meine Gedanken klären.
Johnny holt mich aus meinen Gedanken zurück. „Polarbear“ ruft er und zeigt mit seiner Hand Richtung Steuerbord. Doch ich kann nichts erkennen. Geschickt lenken Johnny und David die Boote zwischen den Eisbergen hindurch und da, jetzt sehe ich sie: Eine Eisbärin mit zwei Jungen schwimmt vor uns im Wasser.
Ich komme mir vor wie in einem Naturfilm. Solche Bilder kenne ich nur aus dem Fernsehen.
Es ist das erste Mal, dass ich Eisbären schwimmend im Wasser beobachten kann. Fasziniert schaue ich zu, wie die Eisbärin mit den beiden Eisbärenjungen durchs Wasser gleitet. Es sind unglaublich begabte Schwimmer. Darauf deutet ja bereits der lateinische Name „Ursus maritimus“, was übersetzt soviel wie Seebär bedeutet, hin.
Mir wird bewusst, dass diese Begegnung ein einmaliges Erlebnis ist. Noch nie war ich einem Eisbär in freier Wildbahn so nahe. Und ich habe kein gutes Gefühl dabei. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Wir sind zu nah an ihnen dran. Viel zu nah.
Aber nicht, weil ich vor den Eisbären Angst habe. Sondern weil ich die Sorge der Eisbärin um ihre Jungen spüre.
Unsere Guides sind keine ausgebildeten Touristenführer. Unsere Guides sind Inuit-Jäger. Sie jagen Wale, Narwale und Eisbären. Nicht wegen Trophäen, sondern um ihre Familien zu ernähren und weil die Jagd zu ihrem Leben und ihrer Kultur gehört. Seit vielen Tausend Jahren. Während die Eisbären in Churchill an Besiedlungen, Menschen und Fahrzeuge gewöhnt sind, haben wir es in der Bay mit Eisbären zu tun, die wahrscheinlich noch nie einen Menschen oder ein Boot zu Gesicht bekommen haben. Für die Eisbärin stellen wir eine unmittelbare Bedrohung dar. Denn jetzt befindet sie sich zwischen zwei Booten. Instinktiv schützt sie ihre Jungen und bringt sie aus der vermeintlichen Gefahrenzone. Denn sie kann ja nicht wissen, dass auf den Booten nur Teleobjektive auf sie gerichtet sind und dass die Jagd auf Muttertiere mit Nachwuchs verboten ist.
David und Johnny drehen die Boote bei und geben den Eisbären genügend Raum, damit sie an uns vorbei schwimmen können.
Als der kleine Eisbär auf Armeslänge an mir vorbei paddelt, gelingt mir dieses Foto. Ich glaube, er ist genauso neugierig über mich wie ich über ihn. Kleine Eisbären sehen einfach süß aus und man möchte sie am liebsten knuddeln.
Unsere Boote bleiben zurück, während die Eisbärin ihre beiden Jungen sicher zur Insel führt.
Dabei vergewissert sie sich stets, wo wir uns befinden und lässt uns nicht aus den Augen.
Erst jetzt sehen wir die volle Größe der Eisbären. Sie stehen gut im Futter, haben ordentlich Speck auf den Rippen und sehen sehr gesund aus. Das sind gute Voraussetzungen für die jungen Eisbären.
Die Eisbären bewegen sich mit Leichtigkeit die man nicht für möglich hält, über die Felsen. Dabei bleiben die jungen Bären immer dicht bei ihrer Mutter. In den kommenden zwei bis drei Jahren werden sie alles von ihr lernen, indem sie ihr folgen und sie genau beobachten. Solange wacht sie über ihren Nachwuchs, bis sie erneut fruchtbar wird und dann ihre Jungen auf sich gestellt sind und ohne ihre Hilfe überleben müssen. Weibliche Tiere werden ab vier bis fünf Jahren geschlechtsreif, während männliche Tiere ab sechs Jahren Nachwuchs zeugen können. Doch die Konkurrenz ist groß und es gibt harte Kämpfe zwischen den Konkurrenten. Oft dauert es bis zu acht oder gar zehn Jahren, bis sich ein Eisbär behaupten kann und es zu einer Paarung kommt. Eisbären können bis zu 25 Jahre alt werden.
Noch ein letzter Blick zurück, dann verschwinden die drei über die Felskuppe.
Noch ganz überwältigt von dieser Begegnung spüre ich wie sich eine unglaubliche Freude in mir ausbreitet. Ich bin den Königen der Arktis ganz nahe gekommen. Das war eines meiner eindrücklichsten Erlebnisse dieser Reise in den hohen Norden Kanadas.
Hier gehts zum ersten Teil meines Reiseberichts.
Hier gehts zum zweiten Teil meines Reiseberichts.
Hier gehts zum dritten Teil meines Reiseberichts.
Die Reise erfolgte auf Einlandung im Rahmen der GoMedia 2014 der Canadian Tourism Commission und wurde von der Great Canadian Travel Company organisiert.